Die „Normalbrennweite“

Immer wieder liest man, wenn man sich mit Fotografie beschäftigt, über die „Normalbrennweite“ und dass dies ja ein 50mm-Objektiv sei. Nun ja, der Begriff ist nicht ganz eindeutig und die Aussage zur Brennweite ist nur zum Teil richtig.

50err

Zunächst einmal zur Frage, warum man diese spezielle Brennweite denn „Normalbrennweite“ nennt. Ist das etwas das „normale“ Objektiv? Was bedeutet denn „normal“ bei einem Objektiv? Früher konnte man schnell auf den Gedanken kommen, 50mm seien „normal“ weil das meist die „Kit“-Linsen von damals waren. Viele Spiegelreflexkameras wurden im Set mit einem 50mm-Objektiv – zunächst mit einem 2.8/50, später dann oft mit einem 2.0/50 oder einem 1.8/50 – verkauft. (Ein 1.4/50 war, wenn überhaupt erhältlich, schon wieder was Besonderes.) Das „50er“ galt als „Universalbrennweite“, mit dem sowohl Schnappschüsse als auch leicht freigestellte Portraits möglich waren, sogar Reportage konnte man damit fotografieren. Wer ein 50er hatte, der konnte sich schon eine große Motivwelt erschließen. Auch später, als SLRs in der Regel mit 35-70 oder 28-80 Zooms angeboten wurden, war ein 1.8/50 sehr oft das erste zusätzliche Objektiv, mit dem man seine kleine Ausrüstung preisgünstig um etwas „Lichtstärke“ ergänzte.

Hmmm… ist nun das 50er „normal“, weil die Industrie es als das „typische“ Objektiv auf den Markt brachte? Nun ja, ein 50er bietet neben der fotografischen Vielseitigkeit auch andere Vorteile: es ist relativ gut zu rechnen (man wird kaum wirklich schlechte 50mm-Objektive finden, es sei denn sie sind defekt) und auch in der Herstellung sind sie nicht allzu teuer.
Auch Leica trug einen nicht unerheblichen Teil dazu bei, die 50mm als Standardbrennweite ins Bewusstsein der Fotografen zu bringen. Die von Oscar Barnack entwickelte erste Kleinbild-Kamera von Leitz hatte ein 50mm-Objektiv. Der Grund dafür war, dass eine Rechnung möglich war, deren Auflösungsleistung dem entsprach, was die anspruchsvollen Techniker und Entscheider bei Leitz für den Kleinbildfilm (36×24 mm) haben wollten. Das war damals schon so eine Art „Pixel-Peeping“. Für ein halbwegs zufriedenstellendes Bildergebnis musste ein Objektiv (und der Film) etwa 1 Million Informationspunkte klar aufzeichnen können, ansonsten hätte man das Kleinbildnegativ nicht ausreichend vergrößern können. Das von Max Berek gerechnete Elmax 3.5/50 (ein fünflinsiger Anastigmat) leistete genau das.

Einer der Hauptgründe aber, warum das „50er“ als „Normalobjektiv“ bezeichnet wird ist der Bildwinkel (ich meine in diesem Text immer den für die Fotografie wichtigen horizontalen Bildwinkel), den diese Brennweite auf dem verbreiteten Kleinbild-Format aufzeichnet. Der Bildwinkel ist abhängig von der Größe des Aufnahmeformates und der Brennweite des Objektivs und entspricht bei einem 50er auf Kleinbild etwa 45° (genau sind es 46.8°, da ein 50er nicht immer genau die Brennweite 50mm hat, dürfen wir hier runden).

Warum ist dieser Bildwinkel denn nun „normal“?

Oft wird geschrieben, dass das genau der Bildwinkel sei, den man mit den eigenen Augen wahrnimmt. Das ist Unfug!
Wer beim Gerade-nach-vorne-sehen nur einen Bildwinkel von 45° wahrnimmt, der hat ein massives Problem mit seiner Sehfähigkeit. Probieren Sie das mal aus:

Halten sie ein Geo-Dreieck* mit dem spitzen Winkel (nicht mit dem 90°-Winkel) an Ihre Nasenwurzel. Sie erkennen recht gut, wohin die beiden Ränder des Geo-Dreiecks führen. Das sind 45°. Ich bin sicher, dass Sie auch außerhalb dieses Bereiches noch Dinge sehen! Wahrscheinlich nicht in höchster Schärfe, Sie können aber auch dort noch etwas erkennen. Der sichtbare Bereich für einen Menschen liegt horizontal fast bei 180°!! Auch das können Sie leicht testen: Halten Sie ihre beiden ausgestreckten Arme genau seitlich, so dass der eine Arm exakt nach rechts und der andere Arm nach links zeigt. Sie können Ihre Hände vermutlich gerade nicht mehr sehen. Sobald Sie Ihre Arme aber ein klein wenig nach vorne bewegen, geraten sie in Ihr Gesichtsfeld. OK, ganz am Rand lassen sich keiner Muster mehr erkennen, aber Sie werden etwas sehen! Eigentlich müsste also die „Normalbrennweite“, sollte die Aussage oben zutreffend sein, ein „Fisheye“ sein. 😉

Scherz beiseite. Ein Objektiv mit einem darstellenden Bildwinkel von etwa 45° (etwas mehr oder weniger ist da unerheblich) bildet aber – und dies ist der Knackpunkt in der Fotografie – perspektivisch in etwa so ab, wie wir gewohnt sind, die Dinge mit unseren Augen zu sehen. Ein Foto, das mit einem 50mm-Objektiv auf Kleinbild aufgenommen wurde, wirkt für uns perspektivisch also sehr „natürlich“. Dies ist der Grund, warum wir das 50er als „Normalobjektiv“ bezeichnen – zumindest auf Kleinbild.

Sie haben sicher bemerkt, dass ich immer „auf Kleinbild“ dazu geschrieben habe. Nun, weiter oben habe ich beschrieben, dass der Bildwinkel von Brennweite und Bildgröße abhängt. Vergrößere ich also das Bildformat, ändert sich der nötige Bildwinkel. Und genau dies ist der Grund, warum für 6×4.5cm Mittelformat ein 80er als „Normalobjektiv“ gilt. Als Faustregel verwendet man die (nicht wirklich exakte aber dennoch sehr hilfreiche) Formel, dass die Brennweite eines „Normalobjektiv“ in etwa der Diagonale des Aufnahemformates entsprechen muss.
Demzufolge wäre das „echte“ Normalobjektiv für Kleinbild zwar eher ein 43er, doch so eng (pun intended) muss man das nicht sehen.

Wichtig wird diese nützliche Faustformel vor allem dadurch, dass mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie, zahlreich neue Aufnahmeformate auf den Markt kamen. Und wenn man für KB-Film gerechnete Objektive an einer digitale Kamera nutzt, deren Sensor kleiner ist als ein Kleinbildnegativ, ändert sich der Bildwinkel q.e.d.

Ein 50er ist also an einer APS-DSLR keineswegs mehr ein „Normalobjektiv“, sonder vom wirksamen Bildwinkel her eine kurzes Tele. Das wird im Allgemeinen als „Crop-Faktor“ bezeichnet. Es hat den Anschein, dass sich die Brennweite ändert. Es ist aber der aufgezeichnete Bildwinkel, der sich ändert. Die Brennweite eines Objektivs ist eine Konstante.

Wer jetzt aufgepasst hat weiß, dass für ein APS-Normalobjektiv die Brennweite etwas kürzer sein muss. Aus dem Grund werden für APS-Sensoren, auch 30er oder 35er sozusagen als „Normalbrennweite“ angeboten.

Die Verkürzung der realen Brennweite wiederum hat Auswirkungen auf die Freistellungsmöglichkeiten. Doch dies ist ein anderes Thema.

An dieser Stelle möchte ich kurz zeigen, dass Objektive mit unterschiedlichen Brennweiten an unterschiedlichen Kameras einen ähnlichen Bildwinkel aufzeichnen. (Ich habe während eines Wochenend-Besuches bei meinen Eltern etwas Zeit gefunden. Die Bilder entstanden, vom Stativ aus, im Arbeitszimmer meines Vaters. Die abgebildete Voigtländer ist genauso alt wie mein Vater. ;))

Nikon1 V1 – 1″-Sensor –  ISO200 – Objektiv: 1Nikkor 1.8/18.5 – Blende f/2.8:

V1_28

Fuji X-E1 – APS-Sensor – ISO 200 – Fujifilm XF 1.4/35 – Blende f/2.8:

fuij28

(Leider hatte ich meine EOS 5D mit dem EF 1.8/50 nicht dabei, für’s Kleinbild musste also der LensTurbo herhalten, ein Adapter, der den Bildwinkel eines Objektivs von APS auf KB anpasst.)

Fuji X-E1 – „simulierter“ KB-Sensor. ISO 200 – Pentax-M 1.7/50 mit LensTurbo – Blende f/2.8: (So würde ein 50er am Kleinbild wirken.)

LT28

Das Pentax 1.7/50 an die APS-Fuji ohne LensTurbo adaptiert generiert folgenden Bildwinkel:

pentax50

Man sieht deutlich die leichte Telewirkung des 50er am APS-Sensor. Es „wirkt“ wie ein 75er.

Nun denn, eine „Normalbrennweite“ gehört meines Erachtens in jede Fototasche. Es ermöglich eine fotografische Vielseitigkeit gapaart mit einer hohen Lichtstärke. Also, viel Spaß mit dem „50er“! 😉

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* Falls Sie kein Geo-Dreieck zur Hand haben, falten Sie ein DIN A4-Blatt „über eck“, dann erhalten Sie auch einen 45°-Winkel.

Links zum Thema:

10 Gedanken zu “Die „Normalbrennweite“

    1. Och, den haben ich schon etwas länger. 😉
      Eigentlich habe ich ihn gekauft, um das 14er Samyang an der X-E1 zu einem „echten“ 14er zu machen.
      Da leidet die IQ aber schon. Mann muss auf f/8 abblenden, um zufriedenstellende Ergebnisse zu kriegen.
      Das 50er oder ein 85er aber … da rockt der LensTurbo!

  1. Endlich mal einer der mir das vernünftig erklärt hat! Okay, man kennt ja vieles aber so ausführlich und verständlich habe ich das noch nirgendwo gelesen. Dankeschön

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